Geschichte der Gedanken

Viele Leute glauben ja, dass die Wolken vom Regen kommen und nicht besonders sind, aber das stimmt gar nicht. Die Wolken sind Türen in verschiedene Welten, wie zum Beispiel in die Welt der Fröhlichkeit oder der Ängste. Die Wolken wurden also nicht vom Regen gemacht, sondern durch die Gedanken der Menschen.

Die Gedanken haben sich gesammelt, wenn Menschen gestorben sind. Sie sind durch die Luft geflogen und wurden immer mehr, weil mehr Menschen gestorben sind. Irgendwann waren es so viele, dass sie nicht mehr wussten wohin sie fliegen sollten. Da hat ein starker Gedanke die anderen gesucht und beschlossen, eine Welt (es gibt sehr viele Welten, die Menschen nicht kennen) zu suchen, auf der sie alle leben könnten. Die anderen Gedanken fanden diese Idee gut und da sie ja die Gedanken von Menschen sind und viel wissen, haben sie diesen starken Gedanken zum König gemacht. Jetzt gingen sie auf die Suche nach einer Welt. Sie suchten sehr lange, aber sie fanden keine Welt. Es kann auch sein, dass die Welten sie nicht rein lassen wollten. Sie wussten es nicht, bis ein Gedanke plötzlich in einem Vulkankrater ein Buch fand. (Die Gedanken können überall hin, weil sie keine Gefühle haben.) Dieses Buch musste sehr alt sein, denn das Leder, in das es gebunden war, war schon fast ganz verrottet. Ein Gedanke konnte lesen und las den anderen vor. (Die Geschichte spielt im Mittelalter, wo noch nicht alle lesen konnten.) In diesem Buch war nur eine Seite, auf der Stand: „Wer eine Welt betreten will, muss ein reines Herz haben.“

Nachdem der Gedanke zu Ende gelesen hatte, war es ganz still. Alle Hoffnung war verloren. Da ging plötzlich die erste Wolke auf. Sie war die Wolke der Sorgen. Die Gedanken wunderten sich sehr, waren aber zu traurig, um hin zu fliegen. Inzwischen waren sie so viele, dass sie die ganze Zeit aneinander stießen. Auf der ganzen Welt gab es kein gedankenloses Plätzchen mehr. Doch ein Gedanke, der von einem kleinen Kind stammte, flog zu diesem „weißen Nichts“ (die Gedanken hatten noch keinen Namen dafür), weil er neugierig war. Als er nah genug war, bewegte sich das weiße Nichts plötzlich. Es versprühte Nebel um sich und hüllte das Gedankenkind ein. Alle Gedanken drehten sich erschrocken um, als sie den Luftzug spürten. Und was sie sahen, verschlug ihnen den Atem. Wo eben noch das Gedankenkind war, war jetzt ein „weißes Nichts“. Das, das sie eben gesehen hatten, aber größer. Zwar nur ein bisschen, aber doch größer – und das Gedankenkind war weg, ganz weg. Aber plötzlich gab es wieder einen starken Wind. Das „weiße Nichts“ bewegte sich und versprühte Nebel, so dass keiner etwas sehen konnte. Doch bald lichtete sich der Nebel und vor den Gedanken stand das Gedankenkind, heil und unversehrt. Aber wenn man genau hinschaute, sah man, dass es ein bisschen kleiner geworden war – nur ein bisschen, aber genug, um es zu sehen.

Alle Gedanken starten das kleine Gedankenkind völlig verdattert an. Aber es schien es nicht zu interessieren, denn es flog lustig herum und machte Späße, als wäre nichts gewesen. Späße waren etwas, das Gedanken seit Jahren nicht mehr gemacht hatten. Das lag daran, dass sie ja schon ewig am suchen waren und zu niedergeschlagen und traurig waren, um Späße oder Witze zu machen. Späße und Witze waren also leider in Vergessenheit geraten und waren jetzt von einem seltsamen Gedankenkind, das eben in einer Wolke verschwunden und kurz darauf geschrumpft wieder heraus gekommen war wieder ausgegraben. Es war seltsam, denn wann die Gedanken das letzte Mal gelacht hatten, daran kann sich keiner mehr erinnern – nicht einmal die schlausten und weisesten Gedanken. Umso verwirrte waren sie, als das geschrumpfte Gedankenkind plötzlich wieder anfing Späße und Witze zu machen und gar nicht mehr trübsinnig oder traurig war.
„Was hat dieses seltsame weiße Wesen denn mit dir gemacht?“ fragte der König das Gedankenkind. Darauf antwortete es mit lustiger Stimme: „Ich wurde reingezogen in das weiße Nichts und ich dachte, es wäre aus mit mir. Doch plötzlich hatte ich harten Boden unter den Füßen und das „weiße Nichts“ war weg. Ich konnte auch wieder sehen und sah mich um und ich sah eine Welt, die wunderschön und bunt war. Es war das Schönste, was ich je gesehen habe: grüne Wiesen mit allen möglichen bunten Blumen. Hinten am Horizont ging über einem tollen, riesig großen, plätschernden Wasserfall die große, strahlende Sonne unter und tauchte alles in warmes rotoranges Abendlicht. Es war wunderschön und ich konnte es kaum fassen. Aber plötzlich zog es in mir, etwas wollte aus mir raus. Eine Weile konnte ich es unterdrücken, aber dann verschaffte es sich einen Weg aus meinem Gedächtnis (Gedanken bestehen nur aus einem Gedächtnis) und sauste ins Freie. Ich habe versucht, es zurück zu holen, aber es war zu schnell für mich.“ „Was ist dann passiert?“ wollten die anderen Gedanken weiter wissen. „Also dann wollte ich noch ein bisschen erkunden. Aber dann kam wieder das blöde „weiße Nichts“ und hat mich wieder rausgeschmissen ohne meinen verlorenen Teil des Gehirns. Voll fies!“ endete es mit seiner Geschichte.

Alle Gedanken starrten das kleine Kind erstaunt an. „Was ist? Bin ich zufällig grün, blau oder pink geworden?“ fragte es kichernd. „Du warst in einer Welt drin – in der Welt der Sorgen. Und das „weiße Ding“ war eine Tür in eine Welt.“, kam es plötzlich von einem sehr alten und wahrscheinlich weisen Gedanken. „Und die Tür ist entstanden, weil es zu viele Sorgen auf der Welt gab. Diese mussten in die Sorgenwelt. Deswegen ist die Tür auch genau vor uns erschienen und du“, er zeigte auf das Gedankenkind, “was du da verloren hast, waren deine Sorgen, die sich von dir gelöst haben, um in der Sorgenwelt zu bleiben, da das ihr zu Hause war. Deswegen bist du auch kleiner geworden.“ Jetzt starrten alle den alten Gedanken an, der soeben gesprochen hatte. „He, ich finde, ihr solltet da auch mal rein, in diese „Wolge“ – da ist es echt schön! Und danach seid ihr fröhlich!“ kam es von dem Gedankenkind. „Stimmt, das könnte tatsächlich gut sein. Denn wer fröhlich ist, kann besser nachdenken und für Probleme Lösungen finden. Aber sag mal, seit wann nennst du diese Tür „Wolge“?“ fragte der Königgedanke. Darauf antwortete das Kind: „Naja, ist mir eben so eingefallen, weil ich mir Stichworte überlegt habe. Ungefähr so: Offen, Eingang, Gedanken, Welt, Leben. Also in einem vollständigen Satz: Ein offener Eingang für Gedanken in einer Welt, wo Teile der Gedanken leben können. Aber wenn man es zusammenfasst würde es ja EGWOL heißen und das hört sich blöd an. Da habe ich noch ein bisschen daran herum gebastelt und fand dann WOLGE so schön, dass ich solche Türen so nennen wollte.“ „Guter Gedanke! Ab jetzt sollten wir dieses „weiße Nichts“ Wolge nennen.“ Meinte der Königgedanke und an sein Volk richtend sagte er: „Hiermit bestimme ich, dass die Türen in verschiedene Welten ab sofort Wolgen heißen!“ (Aus dem Wort „Wolge“ wurde über die Jahre unser heutiges Wort Wolke.)
Viele Gedanken sahen sich erstaunt an, aber gehorchten ihrem Meister. „Um nochmal auf deine Antwort zurück zu kommen: Diese Idee ist gut!“ meinte der König. Wieder an sein Gefolge gewandt sagte er: „Alle Gedanken, groß und klein, werden jetzt nacheinander in die Wolge gehen. Aber denkt daran, immer nur einer soll in der Welt der Sorgen sein, nicht mehrere. Und ihr dürft nicht, wenn euer Sorgengedanke aus eurem Gedächtnis und wegfliegen will, versuchen, ihn einzufangen. Er ist in dieser Welt zu Hause, wie ihr bei euren Eltern. In Ordnung? Also lasst alles über euch ergehen. Und das hätte ich schon fast vergessen: Keiner darf irgendwas von dieser Welt mitnehmen. Gar nichts, ok?“ Die Gedanken antworteten im Chor: „Ja, Herr König!“ Und dann ging es los.

Ein Gedanke nach dem anderen verschwand in Nebel gehüllt in der Wolke und kam nach kurzer Zeit geschrumpft und fröhlich wieder aus der größer gewordenen Wolke heraus. So ging das ganz lange weiter. Der König, der natürlich zuerst in der Wolke war, hatte sich mit ein paar besonders schlauen und weisen Gedanken, die auch schon dort gewesen waren ein ruhiges Plätzchen gesucht (Das ging jetzt, da alle Gedanken kleiner und fröhlicher waren und deswegen auch gern Platz machten. Früher waren sie viel zu traurig, erschöpft und nur mit einem kleinen Funken Hoffnung rumgeflogen.) Sie wollten besprechen, was sie jetzt tun sollten. Denn nur weil jetzt alle Gedanken fröhlich waren, war das Problem, dass sie zu viele waren, noch lange nicht vorbei. Denn die Gedanken wussten ja immer noch nicht wohin sie jetzt sollten. Denn auch wenn sie jetzt alle kleiner geworden waren, waren sie immer noch zu viele, um wirklich ein gemütliches und unbeschwertes Leben als Gedanken zu haben, wie es sich alle wünschten.

„Vielleicht sollten wir eine Wolge suchen, in der wir alle zusammen leben könnten und nicht nur Teile von uns.“ Meinte ein schlauer Gedanke. „Ich weiß nicht wie das gehen sollte, denn wir sind ja schon lange sehr viele und es ist immer noch keine Wolge aufgetaucht. Und suchen halte ich für keine gute Idee, denn wir haben lange nach einer Welt gesucht und keine gefunden, bis uns eine Welt gefunden hat.“ hielt der Königgedanke dagegen. „Vielleicht müssen wir nur ganz fest daran glauben – wir alle: jeder Gedanke.“ Überlegte ein Gedanke, der von einem Geschichtslehrer stammte. Der König war begeistert: „Eine super Idee. Das müssen wir sofort den anderen sagen.“

Er und die anderen Gedanken flogen zurück und der König rief: „Alle mal herhören! Ich und ein paar andere haben uns zusammen gesetzt, um unser Problem zu besprechen und einer von uns hatte eine gute Idee. Da wir keine Wolgen sondern die Wolgen nur uns finden können, fällt Suchen schon mal aus.“ Alle Gedanken sahen sich erstaunt an. „Was hat eine Wolge damit zu tun, dass zu viele Gedanken auf dieser Welt sind?“ fragten sie sich. Der König sah in ihre erstaunten Gesichter und erklärte sich: „Ich muss euch noch aufklären. Tut mir leid, in all der Eile habe ich das vergessen. Wir haben beschlossen, dass wir eine Wolge brauchen, die für Gedanken offen ist und in die wir hinein dürfen. Also hatte einer von uns die Idee, einfach ganz fest daran zu glauben und zu hoffen, dass dann eine Wolge der Gedanken zu uns kommt und uns rein lässt. Wie findet ihr die Idee?“ Die Gedanken antworteten einstimmig: „Ja, wir sind einverstanden!“

„Gut, dann stellt Euch jetzt vor, wie eine schöne weiße Wolge vor uns auftaucht und wir in sie rein dürfen.“ befahl der König den anderen Gedanken. „Und schließt eure Augen!“, fiel ihm noch ein. Alle schlossen die Augen und konzentrierten sich ganz fest auf das, was der König gesagt hatte. Da ging eine Wolke auf, eine ganz kleine Wolke, viel zu klein für einen Gedanken. Der erste der die Wolke sah, war ein Gedankenkind. „Da!“, schrie es ganz laut, so dass es alle Gedanken hören konnten. „Da ist eine Wolge!“ Alle rissen erstaunt die Augen auf, um auch sehen zu können, was das kleine Kind sah. Der König, der natürlich auch die Augen geöffnet hatte, rief einen Befehl an die Gedanken: „Einer von Euch muss versuchen, in diese Wolge hinein zu kommen. Wenn ihr drin seid, werdet ihr wahrscheinlich nicht mehr heraus kommen. Wer meldet sich freiwillig?“ Keiner meldete sich. Der König blickte über das weite Meer von Gedanken, das sich vor, hinter, neben und unter ihm befand. Gab es den keinen? Doch da ganz hinten drängelte sich ein Gedanke hervor. Das Gedankenkind, das zuerst in der anderen Wolke war. „Komm geh in die Wolge und du bist unser Retter!“, sagte der König erleichtert. Das Gedankenkind ging vorsichtig an die Wolke heran, aber es funktionierte nicht. Kein Nebel kam auf – oder doch? – Aber viel zu wenig, um das Gedankenkind in die Wolke herein zu lassen. „Du musst dich ganz fest darauf konzentrieren.“, riet ihm der König. Angespannte Stille herrschte. Das Gedankenkind schloss die Augen und konzentrierte sich darauf. Da kam Nebel auf und die Wolge verschluckte das Kind unter lauten Jubelrufen. „Super!“, rief der König. „Lasst uns alle dort rein fliegen und lasst uns ein gemütliches und unbeschwertes Gedankenleben haben!“

ENDE

J.C. Schuch